8. November 2023 · Campus-News
ETH-Blog – Prof. Gudela Grote
Die Erfahrungen des Jahres 2020 haben vielen Beschäftigten und Unternehmen gezeigt, dass die Flexibilität des Arbeitsorts (und der Arbeitszeit) für beide Seiten Nutzen stiften kann. Die Stolpersteine dabei waren schon vorher bekannt – Grenzziehung zwischen Arbeit und Privatleben, Aufrechterhalten von informellen Kontakten, Führung und Teamzusammenhalt –, aber in den Jahren der Covid-19-Pandemie haben wir unser Bestes gegeben, sie aus dem Weg zu räumen. Ohne diese äussere Notwendigkeit sind sie nun alle wieder da, die Stolpersteine. Aber wir wissen nun auch, dass sie überwunden werden können – dieses Wissen sollten wir nutzen, um Arbeit für alle menschengerechter zu gestalten.
Ein kürzlich von Stanford-Ökonomen verbreiteter Bericht sieht hybrides Arbeiten als unsere Zukunft.1 Diese Aussage erstaunt nicht. Sie deckt sich mit jahrzehntelanger Forschung in der Arbeits- und Organisationspsychologie. Interessant am Bericht ist vor allem die Begründung der Forschenden. Wie es sich für Ökonomen gehört, ist Kern der Argumentation die Produktivität. Sie haben untersucht, wie produktiv die verschiedenen Arbeitsformen sind und kommen zum Schluss, dass wenn Menschen ausschliesslich von zuhause arbeiten, die Produktivität um 10 bis 20 Prozent sinkt, während bei hybridem Arbeiten die Produktivität nicht leidet oder leicht steigen kann.
Wenn man sich etwas genauer ansieht, wo die Forschenden aus Stanford eine sinkende Produktivität festgestellt haben, dann handelt es sich zum Beispiel um zuhause arbeitende “data entry workers” – sprich, um Menschen, die Tag ein Tag aus Daten erfassen, zum Beispiel indem sie Zahlen aus Listen in eine Datenbank eintragen. Das wirft gleich mehrere Fragen auf, weil es einerseits wohl fast keine eintönigere Arbeit gibt, die man im Homeoffice verrichten kann, und es andererseits auch völlig offen ist, ob die häuslichen Bedingungen produktives Arbeit zugelassen haben.
Für die Darstellung der Vorteile hybriden Arbeitens wird eine Studie mit Beschäftigten in Callcenter erwähnt, die weniger Pausen machten und seltener krank waren. Aber wer Produktivität so definiert, erfasst möglicherweise vor allem erhöhten Arbeitsdruck und Präsentismus. Die Beispiele zeigen, wie schwierig es ist, ein gutes Mass für Produktivität zu wählen, und dass jedes Mass betrachtet ohne Kontext nur eine geringe Aussagekraft hat. Diese Unschärfen im Verständnis von Produktivität führen dazu, dass sich jeder und jede die Argumente heraussuchen kann, die zur eigenen Überzeugung und subjektiven Einschätzung passen.
Bei diesen Überzeugungen sollten Unternehmen ansetzen, um die Chancen neuer Arbeitsformen – und auch die Chancen neuer Technologien – sinnvoll zu nutzen. Es geht um Annahmen darüber, was Menschen motiviert zu arbeiten und ihre Arbeit auch möglichst gut zu machen. Im erwähnten Bericht wird eine weitere Studie zitiert, in der Mitarbeitende der Meinung waren, dass Arbeiten von zuhause die Produktivität steigert, und Vorgesetzte annahmen, dass die Produktivität sinkt. Die beiden Aussagen haben eigentlich wenig mit Produktivität, sondern vielmehr mit Menschenbildern zu tun. Ich bin mir sicher: Wenn die Vorgesetzten ausschliesslich ihre eigene Arbeit zuhause beurteilen müssten, würden sie ebenfalls angegeben, dass sie produktiver sind – vorausgesetzt, dass sie selbst gerne von zuhause arbeiten.
Wir sehen – die Diskussion darüber, ob 2 Tage Homeoffice und 3 im Büro oder umgekehrt 3/2 produktiver sind, ist letztlich wenig ergiebig. Eine ernsthafte und offene Diskussion über die neuen Arbeitsformen würde stattdessen ermöglichen, Menschenbilder sichtbar, angreifbar und revidierbar zu machen. Wenn das gelingt, kann konstruktiv darüber verhandelt werden, welche Arbeitsform für wen und für welche Tätigkeiten die passende ist.
Gründe, warum es schwerfällt, wieder physisch ins Unternehmen zu kommen, oder warum ein Gefühl von Kontrollverlust entsteht, wenn Mitarbeitende vor allem zuhause arbeiten, sollten wir offenlegen und hinterfragen können. Solche Diskussionen würden helfen, Mängel bei den bestehenden Arbeitsbedingungen zu identifizieren und eine bessere Arbeitsgestaltung zu initiieren. Wenn ich mich zuhause «verstecke», weil ich den Kontakt zu meinem Team oder meinen Vorgesetzten vermeiden will, oder weil meine Arbeit so uninteressant ist, dass ich jede Möglichkeit nutze, sie nicht machen zu müssen, dann ist das keine Frage von 2/3 oder 3/2, sondern zeigt die Notwenigkeit, Arbeitsinhalte und -beziehungen zu verbessern.
Die Diskussion darum, wie wir in Zukunft arbeiten, wird nicht mehr verschwinden, und sie wirft weitere Fragen auf, denen wir uns über kurz oder lang stellen müssen. Wieviel müssen die Menschen angesichts neuer technologischer und organisationaler Möglichkeiten noch arbeiten? Die Viertagewoche wird in verschiedenen Varianten – von 0/4 bis 4/0 – bereits erprobt und öffnet den Blick auf die grundlegende Frage, welche Rollen Mensch und Technologie zukünftig spielen werden. Wenn Roboter unsere Arbeit in der Fabrik und auf der Bank übernähmen, dann bräuchten wir vielleicht keine Roboter, um unsere Alten zu pflegen. Auch das könnte unsere Arbeit sinnvoller und menschenwürdiger machen.
Bild: ETH