18. März 2024 · Campus-News
ETH – von Vanessa Bleich – Forschende der ETH Zürich und der KUNO Klinik St. Hedwig in Regensburg haben einen Algorithmus entwickelt, der einen bestimmten Herzfehler bei Neugeborenen automatisch und zuverlässig erkennen kann.
Viele Kinder kommen mit dem berühmten ersten Schrei zur Welt. Das neugeborene Kind schnappt mit diesem Schrei automatisch nach Luft. Die Lunge, die zuvor in einem Ruhezustand war, entfaltet sich, die Gefässe in der Lunge weiten sich, und der gesamte Kreislauf stellt auf das Leben ausserhalb des Mutterleibs um. Nicht immer klappt das so reibungslos. Besonders bei Frühgeburten oder schwer kranken Neugeborenen kann eine sogenannte pulmonale Hypertonie auftreten – eine schwere Erkrankung, bei der die Lungenarterien nach der Geburt verengt bleiben oder sich in den ersten Tagen oder Wochen nach der Geburt wieder verschliessen. Der Blutstrom zu den Lungen ist dadurch eingeschränkt und die Sauerstoffsättigung im Blut reduziert.
Wichtig ist nun, dass schwere Fälle einer pulmonalen Hypertonie möglichst rasch erkannt und behandelt werden können. Denn je eher eine Therapie erfolgt, desto besser die Prognose für das neugeborene Kind. Die korrekte Diagnose zu stellen, ist aber nicht ganz einfach. Nur erfahrene Kinderkardiolog:innen sind dazu in der Lage, mithilfe einer umfassenden Ultraschalluntersuchung des Herzens eine pulmonale Hypertonie zu diagnostizieren. «Pulmonale Hypertonie zu erkennen, ist sehr aufwendig und erfordert ein ganz spezifisches Know-How und viel Erfahrung. Gerade abseits der grossen Perinatalzentren ist dieses oft nicht vorhanden», sagt Prof. Dr. Sven Wellmann, Chefarzt der Abteilung Neonatologie an der KUNO Klinik St. Hedwig der Barmherzigen Brüder in Regensburg, Deutschland.
Forschende aus der Gruppe von Julia Vogt, Professorin für medizinische Datenwissenschaft an der ETH Zürich, haben nun gemeinsam mit Neonatologen der KUNO Klinik St. Hedwig ein Computermodell entwickelt, das zuverlässig bei der Diagnose der Krankheit bei neugeborenen Kindern unterstützen kann. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift International Journal of Computer Vision veröffentlicht.
Zunächst haben die ETH-Forschenden ihren Algorithmus mit vielen hundert Videoaufnahmen von Herz-Ultraschalluntersuchungen von 192 Neugeborenen trainiert. Der Datensatz enthielt neben Bewegtbildern des schlagenden Herzens aus verschiedenen Blickwinkeln jeweils auch die von erfahrenen Kinderkardiologen gestellte Diagnose (pulmonale Hyertonie vorhanden oder nicht) und eine Einschätzung zum Schweregrad der Erkrankung («mild» oder «moderat bis schwer»). Wie gut der Algorithmus die Bilder interpretieren kann, wurde danach anhand des ursprünglichen Datensatzes und einem zweiten, dem Modell noch gänzlich unbekannten Datensatz mit Ultraschall-Bildern von 78 Neugeborenen überprüft. Dem Modell gelang es in rund 80-90% der Fälle, die richtige Diagnose vorzuschlagen und in rund 65-85% der Fälle den korrekten Schweregrad der Erkrankung zu bestimmen.
«Damit ein Maschinenlern-Modell im medizinischen Bereich eingesetzt werden kann, ist neben der Vorhersagegenauigkeit jedoch auch entscheidend, dass der Mensch nachvollziehen kann, aufgrund welcher Kriterien das Modell seine Entscheide trifft», sagt Julia Vogt. Ihr Modell erlaubt dies. Es markiert in den Ultraschallbildern diejenigen Bereiche, aufgrund derer es seine Einteilung getroffen hat. Ärztinnen und Ärzte können sich also genau anschauen, welche Stellen oder Eigenschaften des Herzens und seiner Gefässe dem Modell auffällig erschienen. Beim Betrachten der vorliegenden Datensätze stellten die Kinderkardiolog:innen fest, dass das Modell – ohne das es explizit darauf programmiert wurde – auf die gleichen Charakteristiken schaut wie sie selbst.
Das Maschinenlern-Modell ist potenziell auch auf andere Organe und Erkrankungen anwendbar. So beispielsweise für die Diagnose von Herzscheidewanddefekten oder Erkrankungen der Herzklappen.
Gerade in Regionen, in denen keine Spezialist:innen verfügbar sind, kann eine medizinische Fachperson standardisierte Ultraschallaufnahmen anfertigen und das Modell eine erste Einschätzung geben, ob ein Risiko besteht und ein Spezialist oder eine Spezialistin beigezogen werden sollte. In medizinischen Einrichtungen, in denen die hochspezialisierten Fachpersonen vorhanden sind, kann das Modell diese entlasten und zu einer verbesserten und objektiveren Diagnosestellung beitragen. «KI hat das Potenzial, die Gesundheitsversorgung entscheidend zu verbessern. Zentral für uns ist aber, dass am Schluss immer ein Mensch, eine Ärztin oder ein Arzt entscheidet – die KI unterstützt lediglich, um möglichst vielen Menschen eine möglichst gute medizinische Versorgung zukommen zu lassen», so Vogt.