Tyrannei der Last-Minute-Freiheit

23. November 2022  ·  Expertisen-News

Universität St. Gallen – Prof. Dr. Andrea Back

Es wurde schon viel Bedenkliches dazu geschrieben, wie das jederzeit greifbare Handy unseren Kopf in Beschlag nimmt: Die darauf laufend eintreffenden Mails und der 7×24 Social-Media-Nachrichtenstrom versetzen uns in eine «Hier-und-Jetzt-Sucht des Klickens, Wischens und Scrollens» (Formulierung aus: Wege aus der Zukunftsfalle). Wir werden von Wichtigerem abgelenkt, verlernen uns zu konzentrieren, und merken kaum, dass wir in Filterblasen stecken.

Weniger thematisiert wird hingegen, wie sich durch die digitalen Medien Veränderungen in unseren Verhaltensweisen einbürgern, die auf immer kurzfristigere Entscheidungsfindung hinauslaufen. Wie ist das bei Ihnen, wenn es darum geht einen Termin abzumachen? Wer legt sich heutzutage noch frühzeitig fest? Am liebsten wird doch «last-minute» entschieden: Ob man eine Einladung annimmt, ob man bei einer Veranstaltung seines Vereins zu- oder absagt, ob man sich zu einer Konferenzteilnahme anmeldet. Man will abwarten, wie es dann aussieht mit verfügbarer Zeit oder welche anderen Optionen sich noch auftun. Dabei wird dieses Last-Minute-Verhalten als bequem, als am einfachsten empfunden; schliesslich kann man sich erst mal die Anstrengung des Entscheidens ersparen. Manche finden es vielleicht auch einfach modern, weil sie – natürlich fälschlicherweise – meinen, das sei «agil».

Aber das ist doch ein Irrtum, da macht man sich ganz schön was vor: Gleich zu entscheiden ist nicht stressiger – eher im Gegenteil! Nehmen wir beispielsweise Leute, die ein Urlaubshotel buchen und dabei nicht vorhaben, daran festzuhalten, denn die Stornobedingungen erlauben, sich ohne Kostenfolge noch kurzfristig umzuentscheiden. D.h. sie schauen weiter nach anderen Angeboten, buchen was anderes, und das Ganze vielleicht sogar mehrmals. D.h. doch, dieses To-do hat man andauernd im Kopf. Und mit den anderen aufgehobenen Entscheidungen ist es nicht anders. Ich finde, man manövriert sich so in eine Situation wie ein Tellerjongleur: Dauernd muss sich das Hirn um diese vielen in Schwebe befindlichen Themen kümmern.

Der Jongleur im Bild lächelt zwar, aber in Wirklichkeit ist das doch ein Stress. Wer gleich entscheidet bzw. sich festlegt, kann seine Gedanken davon frei machen und spart Mehrfach-Transaktionen wie bei dem Buchungsbeispiel. Ein weiteres Beispiel für unnötigen Ballast im Kopf ist das mit den Gutscheinen. Diese Dinger nerven mich jedenfalls, weil sie sich meiner Gedanken bemächtigen. Jedes Mal, wenn ich so einen Gutschein in der Schublade sehe, muss ich dran denken, wie und wann ich den wohl einlöse; da können locker 20, 30, 40-Mal zusammenkommen. Nein – nicht mit mir, die tyrannisieren ja meine Gedanken! Da werfe ich diese Gutschein-Coupons lieber gleich weg. Mit Mail-to-do’s und anderem, was zu erledigen ist, kann man das zwar nicht so machen, aber durchaus analog. Da gibt es ja die Regel: Kleine Dinge erledigt man sofort, denn dann entfällt der Aufwand sie zu verwalten und man muss nicht mehr mehrfach dran denken.

Bei Termin-Entscheiden sollte man es also genauso machen, d.h. sich einfach frühzeitig festlegen. Dann hat man Ruhe. Andere Optionen muss man nicht mehr abwägen und anderen, die Zeit anfragen, auch gar nichts mehr erklären. DAS macht den Kopf frei – und eben gerade nicht diese vermeintliche Last-Minute-Freiheit.

Aber ist das Tauziehen gegen die Triebkräfte der Kurzfristigkeit zu gewinnen? Womöglich nur mit einem Schreckensszenario. In Wege aus der Zukunftsfalle | Der Pragmaticus wird Jard Diamond angeführt, der argumentiert: «Kurzfristige Entscheidungsfindung in Verbindung mit dem Fehlen von mutigem langfristigem Denken ist seit Jahrhunderten die Ursache für den Zusammenbruch von Zivilisationen». Folgen wir also besser dem Aufruf des Artikels: «Jetzt ist der Moment, ein Zeitrebell zu werden».

Der Artikel von Prof. Dr. Andrea Back

Bildquellen: https://www.pexels.com/de-de/foto/spiegel-spiegelreflexion-beleuchtete-kerze-vertikaler-schuss-9228398/

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